Stress - ein omnipräsentes Thema
Befragt man die Fachdienstleitung, den Betriebsratsvorsitzenden oder den Lager-Logistiker nach dem Befinden, ist ein Wort häufig in der Antwort enthalten. Dabei ist es ganz egal, wen man fragt – der Begriff „Stress“ fällt fast immer.
Als direkter oder indirekter Auslöser einer ganzen Reihe von physischen oder psychischen Reaktionen ist die Thematik dabei alles andere als neu. Denn die stressbedingte Antwort des Menschen hat eine enge Verbindung mit unserem autonomen Nervensystem. Seit Jahrtausenden analysiert dieses nämlich einzelne Situationen des Alltags (in Sekundenbruchteilen) und erkennt, ob es sich hierbei um sichere, bedrohliche oder sogar lebensgefährliche Konstellationen handelt. Dementsprechend erfolgt eine Aktivierung unterschiedlicher Subsysteme. Nach der sogenannten Polyvagaltheorie (Stephen Porges) können hier a) der ventrale Ast des Vagus, b) der Sympathikus (hyperarousal) oder c) der dorsale Ast des Vagus (hypoarousal) unterschieden werden – wobei jeder Zustand mit spezifischen, physischen und psychischen Phänomenen in Verbindung steht.
Ein hohes Stresslevel über einen längeren Zeitraum kann dazu führen, dass unser Nervensystem in eine Dauerschleife aus Hypoarousal- und Hyperarousal-Zuständen gerät und die Selbstregulationsfähigkeit nicht mehr ausreicht, um in eine wirkliche Entspannung zu kommen oder das Gefühl von Sicherheit erfahren zu können. Dieses erlebte Stressgeschehen hat zudem Einfluss auf das sogenannte „window of tolerance“, das den Bereich kennzeichnet, in dem wir mit Belastungen und Herausforderungen gut umgehen und uns selbst wieder zurück in die Balance bringen können. Chronischer Stress führt demanach zu einer Verkleinerung dieses „Toleranzbereiches“ – gezielte Interventionen und Maßnahmen zur Aktivierung des vorderen Vagus können dagegen das „window of tolerance“ aber auch wieder erweitern.
Konkreter Ansatzpunkt: Von der Körperwahrnehmung zum Gehirn
Ein von mir häufig genutzter Satz ist auch innerhalb des individuellen Stressmanagements wieder zu finden: „Wir haben kein Informationsproblem, sondern ein Umsetzungsproblem.“ Denn die vorliegenden Information zum Thema Stress – also unser mittlerweile gut recherchiertes, fachliches Wissen, was gut oder schlecht für uns ist – reicht oftmals nicht aus, um in die Entspannung zu kommen bzw. die Stressreaktion zu bewältigen. Eine rein kognitive Anweisung an uns und unseren Körper, dass wir uns jetzt beruhigen oder entspannen müssen, hat meist keinen nachhaltigen Effekt.
Ein möglicher Weg, den Körper aus diesen Stressmustern wieder zurück in die Balance zu führen, könnte die „Bottom-up-Regulation“ sein. Über die Körperwahrnehmung sollen hier die wichtigen Signale „Sicherheit“ und „Entspannung“ an das Gehirn übermittelt werden, sodass der vordere Ast des Vagus aktiviert wird und unser Nervensystem in den entsprechenden Entspannungsmodus schaltet. Dabei könnte vor allem unsere Atmung einen möglichen Zugang zu den notwendigen neurologischen Prozessen schaffen:
I. Der wohl einfachste Weg, die potenziell beruhigende Wirkung der Atmung zu spüren, liegt in der bewussten Atemwahrnehmung. Da unter Stress oft unbewusst der Atem angehalten oder nur unvollständig ausgeatmet wird, könnte das entspannte Ein- und anschließend lange und tiefe Ausatmen (mit Senken der Schulter und Entspannung des Kiefers) einen Einstieg in die Stressbewältigung bieten.
II. Eine weiterführende Technik ist eine Variation der (aus dem Yoga bekannten) Atemtechnik „Kapalabhati“, in der der Fokus auf eine maximale Mühelosigkeit und Leichtigkeit des Ein- und Ausatmens gelegt werden soll. Bildlich wird hier häufig die auszublasende Kerze genutzt – bevor die Luft dann anstrengungslos zurück in die Lungen strömt.
Neben der Atmung können Bewegungsformen die Aktivität des vorderen Vagus (der mit einem Entspannungszustand gleichzusetzen ist) gezielt unterstützen. Dabei lassen sich aus der praktischen Coaching-Tätigkeit heraus Tendenzen beobachten, welche Übungsformen in welchem Stressmuster bevorzugt werden: Dorsaler Vagus in der Aktivität/Hypoarousal-Zustand ("Abgeschaltet sein"): Übungen mit viel Bodenkontakt, Selbstmassage/sanftes Abklopfen oder Ausschütteln der Arme und Beine - Sympathikus in der Aktivität/Hyperarousal-Zustand ("Kamp" oder "Flucht"): Fließende Übungsformen, sanfte Kräftigungsübungen oder Dehnen (insbesondere der Beine, Rücken- und Schultermuskulatur)
Mit diesem Wissen über das Potenzial der Körperwahrnehmung und dem Einsatz von Atemtechniken sowie passenden Bewegungsformen kann die "Bottom-up-Regulation" langfristig zu einer wertvollen und effektiven Ressource für den Umgang mit Stress und belastenden Situationen werden.